Das Projekt ‚Imagining Desires‘ unterstützt den offenen Brief von sexualpädagogischen Vereinen, Instituten und universitären Expert*innen an Bundesminister Heinz Faßmann, der zu den aktuellen Entwicklungen um schulische Sexualpädagogik stellen nimmt.

Plattform Sexuelle Bildung

Offener Brief an Bundesminister Heinz Faßmann

Wien, 14.5.2019

Sehr geehrter Herr Bundesminister Univ.-Prof. Dr. Heinz Faßmann,

als Vereine, Institute, Fachstellen und Expert*innen, die seit vielen Jahren im Bereich der Sexualpädagogik bzw. der sexuellen Bildung arbeiten und sich für qualitätsvolle Sexualpädagogik einsetzen, sind wir froh und erleichtert, dass Sie sich als Bundesminister klar zum Verein TeenSTAR geäußert und Schritte unternommen haben, um die Tätigkeit dieses Vereins an Schulen zu unterbinden. Wir freuen uns, dass Sie damit auch ein klares Zeichen für eine Sexualpädagogik gesetzt haben, die Selbstbestimmung, sachgerechte Wissensvermittlung und die Anerkennung von geschlechtlicher und sexueller Vielfalt zur Grundlage hat. Wir verstehen Ihr Handeln auch als ein Signal dafür, dass Sie Sorge tragen, dass der Grundsatzerlass Sexualpädagogik von 2015 (BMBF-33.543/0038-I/9d/2015) nicht nur auf dem Papier gilt, sondern auch in den Schulen entsprechend umgesetzt wird. Dafür gilt es, gute Rahmenbedingungen zu schaffen.

Als sexualpädagogisch tätige Vereine, Institute, Fachstellen und Expert*innen, die seit Jahren nicht nur Workshops an Schulen halten, sondern auch in der Fort- und Weiterbildung von pädagogisch und psychosozial Tätigen aktiv sind, Beratungsarbeit leisten und pädagogische Einrichtungen bei der Erstellung von sexualpädagogischen und gewaltpräventiven Konzepten unterstützen, ist uns eine qualitätsvolle altersangemessene sexualpädagogische Arbeit, wie sie weiter unten genauer beschrieben wird, ein großes Anliegen. Durch Teamarbeit, Fortbildungen und Fachtagungen, Super- und Intervision sowie professionelle Reflexion und Vernetzung gewährleisten wir diese Qualität. Für die notwendigen Qualitätssicherungsmaßnahmen braucht es auch entsprechende finanzielle Ressourcen. Viele Anbieter*innen arbeiten unter prekären finanziellen Bedingungen und haben keine oder kaum Grundfinanzierung. Vor allem jene Vereine, Institute, Fachstellen und Expert*innen, denen ihre Unabhängigkeit von Parteien und religiösen Gemeinschaften wichtig ist, sind auf Kostenbeiträge von Schulen oder die Finanzierung von Bund oder Land angewiesen.

Schulgeldfreiheit

Wir stimmen mit dem Ministerium in der Wichtigkeit der Schulgeldfreiheit überein, an die im Rundschreiben Nr. 05/2019 (Geschäftszahl: BMBWF-33.543/0048-I/2/2018) zur „Zusammenarbeit mit außerschulischen Organisationen im Bereich der Sexualpädagogik“ erneut erinnert wurde. Für viele Familien sind finanzielle Beiträge für Schulveranstaltungen, Angebote von externen Referent*innen etc. eine große finanzielle Belastung. Professionelle Sexualpädagogik darf nicht nur jenen zugutekommen, deren Eltern und Erziehungsberechtigte sich diese leisten können. Wir schlagen deshalb vor, dass alle Schulen ein Budget für die Finanzierung sexualpädagogischer Workshops erhalten bzw. dass ein Budgettopf für Sexualpädagogik eingerichtet wird, aus dem die Schulen unbürokratisch die Kosten für sexualpädagogische Bildungsarbeit bzw. Beratung von externen Anbieter*innen ersetzt bekommen. Darüber hinaus braucht es auch eine Finanzierung der Beratungs- und Konzeptentwicklungsarbeit sowie der Elternarbeit, die aus fachlicher Sicht überaus wichtig ist und die Sie begleitend zu den schulischen Angeboten im Rundschreiben einmahnen.

Zusammenarbeit von Lehrer*innen und externen Sexualpädagog*innen 

Wie zahlreiche Schulen erkannt haben, sind Workshops von externen sexualpädagogischen Vereinen eine wichtige Ergänzung zur Arbeit von Lehrer*innen. Neben der zentralen Rolle von Eltern und Erziehungsberechtigten spielen Lehrer*innen als langjährige Bezugspersonen eine wichtige Rolle in der sexuellen Bildung. Sie können wichtige erste Ansprechpersonen sein, etwa bei sexuellen Übergriffserfahrungen oder Unsicherheiten mit der eigenen körperlichen Entwicklung. Lehrer*innen kennen und unterrichten die Schüler*innen über einen längeren Zeitraum und haben so die Möglichkeit Veränderungen wahrzunehmen und Lern- und Entwicklungsprozesse kontinuierlich zu begleiten. Sexualpädagogische Themen wie Intimität, Freundschaften, Liebesbeziehungen oder Geschlechter- und Körpernormen kommen zudem nicht nur dann im Unterricht auf, wenn Sexualkunde auf dem Programm steht. Es ist also sinnvoll, wenn allen Lehrer*innen in der Ausbildung sexualpädagogische Grundlagen vermittelt werden. 

Manche Fragen und Themen wollen Schüler*innen jedoch lieber nicht mit ihren Lehrer*innen besprechen – und umgekehrt. Externe Sexualpädagog*innen haben den Vorteil, dass sie nur zeitlich begrenzt in die Klassen kommen und keine Noten geben. Ein solches Setting ohne Beurteilung macht es für Schüler*innen leichter, für sie als unangenehm erlebte Erfahrungen zu besprechen oder tabuisierte Fragen zu stellen. Für externe Workshopleiter*innen ist es zudem einfacher, auf diese Fragen einzugehen und mit möglichen Projektionen der Schüler*innen, die damit zusammenhängen können, umzugehen. Als sexualpädagogische Expert*innen verfügen sie darüber hinaus über ein großes und aktuelles sexualpädagogisches Fach- und Handlungswissen. Für eine entwicklungsförderliche Umsetzung des Unterrichtsprinzips Sexualpädagogik braucht es aus unserer Sicht also sowohl Lehrer_innen, die in ihrer Ausbildung auf sexualpädagogische Herausforderungen vorbereitet werden, als auch qualifizierte Angebote externer Sexualpädagog*innen. Der Grundsatzerlass „Reflexive Geschlechterpädagogik und Gleichstellung“, der im Oktober 2018 erlassen wurde (Geschäftszahl: BMBWF-15.510/0024-Präs/1/2018) formuliert treffend, was auch für die Sexualpädagogik gilt: „Das Beiziehen von externen Fachkräften, die frei sind von der Rolle einer benotenden Autoritätsperson, kann für derartige Lernräume von großem Vorteil sein bzw. sogar notwendig erscheinen.“ (Vgl. 2018: 9)

Wir teilen das Anliegen der Qualitätssicherung und des Schutzes der Schüler*innen, das dem Rundschreiben zugrunde liegt, sehen aber manche der Maßnahmen als nicht geeignet für dieses Anliegen an. Die verpflichtende Anwesenheit von Lehrpersonen ist insbesondere in der Sekundarstufe aus fachlicher Sicht problematisch. Die Erfahrung zeigt, dass die Anwesenheit von Lehrer*innen in sexualpädagogischen Workshops die Möglichkeiten der Schüler*innen, Fragen zu stellen und sich offen zu äußern, beträchtlich einschränkt. Wenn sich Schüler*innen mit den Fragen und Themen, die sie beschäftigen, aus guten Gründen zurückhalten, ist es jedoch auch für Sexualpädagog*innen nur schwer möglich, an die Lebenswelt und die Interessen der Jugendlichen anzuschließen – ein Qualitätskriterium, das im Grundsatzerlass „Sexualpädagogik“ und vielen internationalen Qualitätsstandards der Sexualpädagogik verankert ist. 

Qualitätssicherung 

Bezugnehmend auf (internationale) Forschungen und Qualitätsstandards sowie den österreichischen Grundsatzerlass „Sexualpädagogik“ scheint uns die Kombination von drei inhaltlichen Aspekten als Orientierung für Qualitätssicherungsmaßnahmen wichtig:

1. Ein sexualfreundlicher Zugang, der Kinder und Jugendliche in ihren Bedürfnissen, Erfahrungen, Fähigkeiten und Ambivalenzen ernst nimmt,

2. ein sexualpädagogischer Zugang, der Lustfreundlichkeit mit Gewaltprävention zusammendenkt sowie

3. ein diskriminierungskritischer und inklusiv ausgerichtet sexualpädagogischer Ansatz, der die unterschiedlichen Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen berücksichtigt.

Gewaltprävention ohne einen lustfreundlichen und diskriminierungskritischen Zugang verfehlt ihr Ziel eines effektiven Schutzes von Kindern und Jugendlichen. Ein sexualfreundlicher Zugang hingegen, der Übergriffserfahrungen, Diskriminierung, schwierige Gefühle und Ambivalenzen ausblendet, verkennt die Lebensrealität vieler Kinder und Jugendlicher. Um einen diskriminierungskritischen und inklusiven Zugang in der Sexualpädagogik zu stärken, ist es wichtig, dass sexualpädagogische Teams zunehmend ebenso divers zusammengesetzt sind wie ihre Adressat*innengruppen, etwa in Bezug auf Sprachen, Rassismuserfahrungen, soziokulturelle Herkunft oder (Dis)Ability. 

In Ihrer öffentlichen Stellungnahme vom 01.04.2019 (im Falter sowie in der ZIB 2) haben Sie angekündigt, dass im Ministerium eine Akkreditierungsstelle für Organisationen bzw. Expert*innen, die sexualpädagogische Workshops an Schulen anbieten wollen, eingerichtet werden soll. Ein solcher Schritt ist nachvollziehbar und kann eine sinnvolle Maßnahme zur Qualitätsicherung sein. Im Rundschreiben Nr. 5/2019 ist bereits von Clearingstellen in den Bildungsdirektionen die Rede. Die dort angeführten Eignungskriterien sind unserer Einschätzung nach fachlich sinnvoll und können auch als Kriterien für ein Akkreditierungsverfahren dienen. Wenn eine Akkreditierungsstelle und ein Akkreditierungsverfahren eingerichtet werden, so gilt es jedoch folgende Aspekte dabei unbedingt zu berücksichtigen:

• Im Gremium, das über die Akkreditierung entscheidet, braucht es Expert*innen aus der Sexualpädagogik. In dem Akkreditierungsrat muss sowohl wissenschaftliche Expertise wie Praxiserfahrung aus der Arbeit in der sexuellen Bildung Berücksichtigung finden und entsprechend personell vertreten sein. Darüber hinaus kann die Einbindung von internationalen Expert*innen sinnvoll sein.

• Das Akkreditierungsverfahren und seine Kriterien müssen transparent und nachvollziehbar gestaltet und so beschaffen sein, dass auch kleine Vereine sowie ehrenamtliche Peer Education-Projekte eine realistische Chance haben, akkreditiert zu werden. Das bedeutet auch, dass der Aufwand der Akkreditierung für die betreffenden Vereine, Fachstellen, Institute und Expert*innen möglichst gering gehalten werden muss.

• Das Akkreditierungsverfahren muss so gestaltet sein, dass alle den Kriterien entsprechenden und gemeinnützig orientierten Anbieter*innen die Möglichkeit zur Akkreditierung haben und die Vielfalt der (lokalen) Vereine, Fachstellen und Institute nicht zugunsten weniger großer Anbieter*innen verloren geht.

• Um die Qualität der Arbeit zu gewährleisten, halten wir es für unerlässlich, dass die Akkreditierung mit einer Förderung für die Anbieter*innen einhergeht, um Supervision, Fortbildung, Vernetzung und ähnliche Qualitätssicherungsmaßnahmen zu finanzieren.

• Zur Entwicklung sinnvoller Qualitätssicherungsmaßnahmen in der Sexualpädagogik braucht es auch wissenschaftliche Forschung und Theoriebildung zu sexueller Bildung in Österreich. Wir plädieren daher für die Stärkung der Sexualpädagogik als interdisziplinär orientierten Teilbereich der Bildungswissenschaft durch Förderung von Forschung und Theoriebildung und Schaffung von akademischen Stellen in diesem Bereich.   

Als Vereine, Institute, Fachstellen und Expert*innen, die seit vielen Jahren im Bereich der Sexualpädagogik und der sexuellen Bildung tätig sind, stehen wir mit unserer Expertise für einen konstruktiven Dialog gerne zur Verfügung. Zur Qualitätssicherung fordern wir sowohl eine ausreichende Finanzierung sexualpädagogischer Angebote in Österreich als auch die Berücksichtigung sexualpädagogischer Expertise bei neuen Steuerungsmaßnahmen wie bspw. der Einrichtung von Clearing- und Akkreditierungsstellen. Für die Entwicklung von Maßnahmen zur Stärkung und Weiterentwicklung der Sexualpädagogik und sexuellen Bildung in Österreich sind wir gerne bereit, unsere Expertise einzubringen und freuen uns über einen Gesprächstermin in dieser Angelegenheit.

Mit freundlichen Grüßen, 

die unterzeichnenden Vereine, Institute, Fachstellen und universitären Expert*innen

Vereine, Institute und Fachstellen 

achtung°liebe

Fachstelle NÖ für Suchtprävention und Sexualpädagogik 

Mädchenzentrum Klagenfurt

Mafalda – Verein zur Förderung und Unterstützung von Mädchen und jungen Frauen

Netzwerk der österreichischen Frauen- und Mädchenberatungsstellen

Ninlil – Empowerment und Beratung für Frauen mit Behinderung 

Österreichische Gesellschaft für Familienplanung

Österreichische Gesellschaft für Sexualwissenschaften

Österreichisches Institut für Sexualpädagogik und Sexualtherapien

Pasiofeel – Lust & Liebe im Gespräch

Plattform Sexuelle Bildung

Samara – Verein zur Prävention von (sexualisierter) Gewalt

Selbstbewusst – Sexualpädagogik und Prävention von sexuellem Kindesmissbrauch

Selbstlaut – Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen

Verein Amazone

Universitäre Expert*innen

Post-Doc Ass. Dr. Sara-Friederike Blumenthal, Institut für Erziehungswissenschaften und Bildungsforschung, Arbeitsbereich Sozialpädagogik und Inklusionsforschung, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt 

Mag. Gabriele Rothuber, Universitätslektorin Universität Innsbruck

Dr. Barbara Rothmüller, Universitätslektorin Universität Wien und FH Campus Wien

Univ.-Prof. Dr. Elisabeth Sattler, Institutsleitung Institut für das künstlerische Lehramt, Akademie der bildenden Künste Wien

Dr. Paul Scheibelhofer, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Innsbruck

Mag. Marion Thuswald, Institut für das künstlerische Lehramt, Akademie der bildenden Künste Wien

Dr. Karlheinz Valtl, Senior Lecturer, Zentrum für LehrerInnenbildung, Universität Wien

Mag. Sabine Ziegelwanger, Universitätslektorin Universität Innsbruck und Zentrum für LehrerInnenbildung Universität Wien

Weitere Unterstützer*innen

Frauenvolksbegehren

gefühls*echt – für einen unaufgeregten Zugang zu sexueller Bildung

Plattform Sexualpädagogik Südtirol

Bei Rückfragen und Interesse an der Unterstützung des Offenen Briefes wenden Sie sich bitte an barbara.rothmueller@sexuellebildung.at.

Kontakt

plattform@sexuellebildung.at

Medienberichte zum offenen Brief